Der falsche Zwilling

Mein Spiel der Saison IV: Europa-League-Achtelfinale gegen Juventus

Verein
09.06.2023

EL-Achtelfinale, DFB-Pokal-Halbfinale, Punkterekorde, Pokalfinale der Frauen, Qualifikation für Europa. In der Serie „Mein Spiel der Saison“ berichten zehn Autor/innen von ihren einprägsamsten Erlebnissen 2022/23. Heute: Europa League gegen Juventus.

Wie häufig dienstags oder freitags nach Feierabend schlendere ich an diesem späten Nachmittag mit meiner Familie über den Herdemer Bauernmarkt. Ich mag die Atmosphäre auf dem Kirchplatz mit seinen kleinen Ständen, dem charmanten Käse-Mann, der immer gut gelaunten vietnamesischen Obst- und Gemüseverkäuferin, der meist etwas schlecht gelaunt wirkenden Olivenverkäuferin und der launigen Kartoffel- und Gemüsebäuerin vom Kaiserstuhl.

An diesem Dienstag ist das Rückspiel des SC in der Europa League gegen Juventus Turin Gesprächsthema Nummer eins auf dem Markt. Vor allem der junge italienische Orangen- und Zitronenverkäufer, der das halbe Jahr auf Sizilien lebt und die besten Blutorangen von der italienischen Mittelmehrinsel auf Freiburgs Märkten verkauft, wird immer wieder auf das Spiel in zwei Tagen angesprochen. Für gewöhnlich wirkt er eher zurückhaltend, als er mitbekommt, dass ich für den Sport-Club arbeite, wittert er eine kleine Chance, seinen italienischen Lieblingsclub in seiner Wahlheimat mal live im Stadion zu sehen.

Nachdem er mir wie immer in unnachahmlicher Art mein Restgeld auf italienisch in die Hand gezählt hat und mir mein Bündel Orangen reicht, kommen wir ins Gespräch. Leider muss ich ihn enttäuschen. Das Europa-Park Stadion ist restlos ausverkauft – und auch meine zwei erworbenen Karten längst vergeben. Meine in Freiburg lebenden Cousine und mein eineiiger Zwillingsbruder, der aus dem Allgäu extra anreist, hatten da mehr Glück.

Als ich am Abend des Spiels zum ersten Mal die Treppen zum Block W11 hinaufsteige, kommt mir die erste SC-Kollegin entgegen und ruft mir halb lachend, halb vorwurfsvoll entgegen: „Du hättest ja auch sagen können, dass du einen Zwillingsbruder hast.“ 14 Stufen weiter oben erwartet mich die Kommunikationsleiterin eines Sponsors, die meinen Bruder bereits Umarmen wollte und im letzten Moment doch noch an sich halten konnte.

Die Szenen an diesem Abend ähneln sich. Vor dem Spiel: Unser Busfahrer klatscht mit dem falschen Zwilling ab. Nach dem Spiel: Verdutzte, ungläubige und belustigte Kolleginnen und Kollegen auf der Geschäftsstelle, die mich zum ersten Mal doppelt sehen. Als das Spiel und die Pressekonferenz längst Geschichte ist, behauptet mein Bruder mit breitem Grinsen dann auch noch, er hätte ungezwungen mit unserem Cheftrainer geplaudert, Seite an Seite, von Kollege zu Kollege, auf der Herrentoilette. Scho recht!

Warum ich über all das schreibe – und nicht über die Partie gegen Juve oder den Spielverlauf beim Spiel des Jahres?

Weil ich Fußballspiele zwar häufig kommentierend („Radio Rehm“), mal lautstark verfolge und dabei alles aufsauge. In Erinnerung bleiben mir aber meist vor allem die Szenen abseits des Feldes sowie Emotionen und kleine Geschichten.

Beim Rückspiel gegen Juve sehe ich zum Beispiel den italienischen Erfolgstrainer Massimiliano Allegri in seinem feinen dunkelblauen Mantel und den auf Hochglanz geputzten Schuhen vor meinem geistigen Auge, wie ihn seine Millionentruppe zum Ende der Partie zur Verzweiflung bringt und er neben der Trainerbank herumhüpft und flucht wie Rumpelstilzchen.

Vielleicht bin ich noch nicht abgebrüht genug, aber ich kann noch immer meine damals empfundene Ungerechtigkeit nach dem Spiel fühlen. Weil unsere Jungs trotz strittigem Platzverweis so leidenschaftlich und aufopferungsvoll gekämpft haben. Ich bin ehrlich: Gegen Juve eine Runde weiterzukommen, wäre für mich auch eine kleine Genugtuung gewesen – für eine in vielen Punkten so wenig gastfreundliche und irgendwie auch eigenartige Atmosphäre beim Hinspiel in Turin, die so wenig mit einem Stadionbesuch zu tun hatte, wie ich ihn kenne, und was ich von einem solchen europäischen Traditionsclub nicht erwartet hätte.

Ich erinnere mich an leere Ränge trotz riesiger Nachfrage unserer Fans. Pink gekleidete weibliche DJs auf der VIP-Tribüne unter uns, die vor dem Spiel ohrenbetäubende Elektromusik zu einer Laser-Show auflegten und das Stadion in einen riesigen Club verwandelten. Es folgte eine Hymne („Juve – Storia di un grande amore“), die so gar nicht dazu passen wollte, allerdings so ins Ohr ging, dass so manch einer sie sich im Nachgang noch mehrmals anhören musste. Während des Spiels dann – mit Ausnahme des 1:0-Siegtreffers – fast ausschließlich lautstarke Pfiffe gegen die Gesänge unserer Fans, statt Unterstützung fürs eigene Team. Mi scusi, das hatte mit der „alten Dame“, die ich erwartet hatte, leider wenig zu tun.

Ganz anders unsere Fans beim Rückspiel, die unser Stadion in einen Hexenkessel verwandelten. Eine Stimmung mit Gänsehautcharakter. In diesen Momenten, gerade nach dem Spiel, als wir verloren hatten, zeigt sich für mich wahre Größe. Und das auch ohne Titelsammlung.

Genau das sind die Momente, die ich genieße, und auf die ich stolz bin, ein winziger Teil dieses Vereins zu sein. An meinen Orangenverkäufer habe ich in diesem Moment nicht mehr gedacht. Ich bin mir aber sicher, es hätte ihm gefallen.

Der Autor: Holger Rehm-Engel (39) arbeitet seit August 2019 für den SC Freiburg, zunächst als Referent des Vorstands und mittlerweile als Leiter Club-Medien und Digitalisierung. Seinen Sommerurlaub verbringt er in diesem Jahr in Italien, allerdings ohne seinen Zwillingsbruder.

Foto: Achim Keller

 
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