EL-Achtelfinale, DFB-Pokal-Halbfinale, Punkterekorde, Pokalfinale der Frauen, Qualifikation für Europa. In der Serie „Mein Spiel der Saison“ berichten zehn Autor/innen von ihren einprägsamsten Erlebnissen 2022/23. Heute: Zu Gast in Baku.
Manchmal, wenn Frau und Kind im Bett sind, sitze ich auf unserem Balkon und betrachte in Gedanken versunken die gegenüberliegende Hügelkette, deren Silhouette sich vor dem nächtlichen Horizont abzeichnet und die ich ihrer Form wegen „das Krokodil“ getauft habe.
Nicht selten finde ich mich dann in Situationen oder an Orten wieder, die mich unterbewusst wohl noch beschäftigen. „Mein Großvater hat immer gesagt, man müsse im Leben Pionierarbeit leisten“, sagte ich beispielsweise im vergangenen November in einem kleinen Park in Baku im Verlauf eines angenehm ziellosen Gesprächs.
Klassischer Fall von falsch zitiert: Denn erstens hat mein Opa selten in Sätzen gesprochen, die ein Ausrufezeichen an ihrem Ende verlangen und zweitens hat er das nicht „immer“ gesagt, sondern ist diesbezüglich mit bestem Beispiel vorangegangen.
Google spuckt als Definition für „Pionierarbeit“ übrigens „wegbereitende“ oder auch „bahnbrechende Leistungen auf einem Gebiet“ aus. So ganz losgelassen hat mich diese Aussage meines Großvaters jedenfalls nie. Und vermutlich waren es Fremdheit und Surrealität des Szenarios – ich reise mit dem Sport-Club in eine 3.400 Kilometer entfernte, mir völlig unbekannte Stadt, zu einem Gruppenspiel in der Europa League, das sportlich keinen Einfluss mehr hat, weil wir nämlich von den ersten fünf Spiele vier gewonnen haben (!) und bereits als Gruppensieger feststehen – die mir das Gefühl gaben, selbst zum Pionier zu werden.
Dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass die Innenstadt Bakus mit ihrer Mischung aus futuristischen Gebäuden, repräsentativen Prunkbauten und historischem Kern ein bisschen wirkt, als hätte ein überambitionierter Regisseur eine Science-Fiction-Serie und einen Historienfilm miteinander gekreuzt.
Da das Spiel gegen Qarabag Agdam erst spätabends angepfiffen wurde, hatten wir tagsüber viel Zeit die Gassen der Millionenstadt zu erkunden. Wir gönnten uns georgische Teigtaschen und einen deftigen, mit Reis, Fleisch und Trockenfrüchten gefüllten Kuchen, der den schönen Namen „Plov“ trägt. Wir begegneten SC-Fans, die die weite Reise ebenfalls auf sich genommen hatten und flanierten über die ausgedehnte Strandpromenade der Metropole.
„Das hat jetzt mit Pionierarbeit aber wirklich nur im Entferntesten zu tun,“ meldet sich das Krokodil aus der Ferne zu Wort. „Stimmt“, gebe ich etwas verschämt zu. „Aber mit Blick auf das Große Ganze wird vielleicht ein Schuh draus.“
Denn nicht nur war es auch für den Verein die weiteste Pflichtspiel-Auswärtsfahrt seiner Historie, sondern es stand zu diesem Zeitpunkt bereits fest, dass wir erstmals ein Europäisches Achtelfinale spielen würden – und dass nur wenige Monate nach der grandiosen Erfahrung der Pokalfinal-Premiere in Berlin.
Im Rückspiel gegen Qarabag Agdam gaben zudem mit Noah Atubolu, Keven Schlotterbeck, Hugo Siquet, Robert Wagner, Kevin Schade und Noah Weißhaupt sechs SC-Spieler ihr Europa-League-Startelfdebüt. Insgesamt kamen im Laufe der Partie am Kaspischen Meer neun Eigengewächse der Freiburger Fußballschule zum Einsatz, die dabei halfen auch das sechste Gruppenspiel ohne Niederlage zu bestreiten.
Wenige Wochen nach den Erlebnissen in Aserbaidschan veröffentlichte der Kicker eine Liste mit den Einsatzminuten der von den Bundesligaklubs selbst ausgebildeten Spieler. Einsamer Führender: Der Sport-Club mit zu diesem Zeitpunkt 7.798 Minuten und umgerechnet 34,2 Prozent der Gesamtspielzeit. Und das in einer Saison mit Dreifachbelastung.
„Schon verrückt, selbst ein kleiner Teil dieses außergewöhnlichen Weges zu sein,“ murmle ich in mich hinein. „Und jetzt stell Dir vor, wir würden kommende Saison wieder so viel Neues erleben, wieder Pfade betreten, die Neuland für den Verein sind, wieder „Bahnbrechendes auf unserem Gebiet leisten““.
Aus der Ferne ertönt ein anschwellendes Grummeln. Vor meinen Augen erhebt sich die gegenüberliegende Hügelkette unter unweltlichem Ächzen und dreht sich in meine Richtung. Die Welt verstummt, ein intelligent funkelndes, bernsteinfarbenes Augenpaar blickt mich an. Das Krokodil grinst.
Der Autor: David Hildebrandt (34) ist seit vier Jahren Teil der Abteilung Kommunikation & Medien beim SC Freiburg. Für die kommende Europa-League-Gruppenphase wünscht er sich Fahrten nach Großbritannien, Island und Portugal.
Foto: SC Freiburg