Sechs Spiele, sechs Auswärtsfahrten, sechs Autor/innen. Wir nehmen euch in dieser Woche mit auf den langen Weg ins Pokal-Finale in Berlin. Heute: Das Halbfinale beim Hamburger SV.
Gemeinsam mit meinem eineinhalb Jahre alten Sohn und meiner Frau, beide zugestiegen in Hannover nach einem Osterwochenendbesuch bei den Schwiegereltern, sitze ich einen Tag nach dem Pokalhalbfinale also in Wagen neun, im Kinderabteil des ICE 75, zurück nach Freiburg. Mein Sohn spielt mit „Günni“, den er im Bordbistro nach Vorlage einer Kinderfahrkarte bekommen hat. „Günni“ hat mit SC-Kapitän Christian Günter mit Ausnahme seines Spitznamens wenig gemeinsam. Der „Günni“ der Deutschen Bahn ist ein brauner pummeliger Güterzug mit blauer Mütze und riesigen Augen.
Anders als „Günni“ haben viele Passagiere im ICE kleine Augen. Die meisten von ihnen sprechen südbadischen Dialekt, tragen ein SC-Trikot oder einen roten Schal. Trotz 169 Minuten „Verlängerung“ ist von der üblichen Nörgelei über die Verspätung der Deutschen Bahn nichts zu hören. Die meisten Passagiere im ICE 75 sind müde, aber glücklich.
Als mein Sohn dann auch irgendwann endlich eingeschlafen ist und meine Kopfschmerzen von den Mexikanern (scharfes Hamburger Spezialgemisch mit Schnaps, Tomatensaft, Tabasco und fiesen Gewürzen; Anm. d. Red.) der zurückliegenden Nacht nachgelassen haben, lehne ich mich zurück und versuche zu begreifen, was gestern passiert ist.
1:0 – Nils. 2:0 – Chicco. 3:0 – Vince per Elfmeter und Videobeweis. Unser Sport-Club führte nach 35 Minuten mit 3:0. Wer will da noch zugeben, dass er vor dem Spiel ein schlechtes Gefühl hatte?
Als der HSV (1:3-Anschlusstreffer nach 88 Minuten) und seine Fans (Bengalo-Inferno nach der Halbzeitpause) nochmals alles versuchen, ist es längst zu spät. Uns soll es recht sein. Unser Block ist längst im Feiermodus angekommen. Da stört es auch nicht, dass unsere Jungs die zweite Halbzeit im Stil einer Spitzenmannschaft gefühlt einen Gang zurückschalten.
Als Schiedsrichter Deniz Aytekin nach 90 plus 5 Minuten abpfeift, gibt es im Fanblock und unten auf dem Rasen kein Halten mehr. Finale, über Hamburg nach Berlin, was für eine Nacht.
Woran ich in dem Moment gedacht habe?
Ich könnte jetzt sagen an meine Frau, die am 21. Mai nun ohne mich zu einer Hochzeit einer Freundin muss. Als pflichtbewusster Mitarbeiter natürlich an den Batzen an Arbeit, die auf uns in den kommenden Tagen wartet. Oder als langjähriger Wahlhamburger, in welche Kneipen auf St. Pauli ich meine Kollegen heute Nacht noch schleppe.
Tatsächlich genieße ich nur den Moment. Mit meinen Kollegen stehe ich im Hamburger Volksparkstadion und stimme ein in die Fangesänge unserer Fans. Ich blicke herum in begeisterte Gesichter. Ich freue mich wie ein kleines Kind, als unsere Spieler kurz zu uns vor die Gegengerade kommen und – als sie uns als „Kollegen“ erkennen – leicht peinlich berührt gemeinsam mit uns feiern. Aus der Ferne sehe ich auf dem Rasen meinen Kollegen, der seit mehr als einer Dekade für den Sport-Club arbeitet, wie er in der Hocke innehält und ihn die Emotionen übermannen.
Irgendwann werden Julian Schuster und Karim Guédé (in seiner Geburtsstadt Hamburg) besungen, beide stehen selbst im Fanblock. Da habe ich längst aufgehört zu zählen, wie oft Jonny, Demi, Vince und Co. umgedreht sind, um auf den auch nach einer dreiviertel Stunde nach wie vor proppenvollen Gästeblock zuzustürmen.
Als es Mitternacht ist, müssen wir los, zurück zum Bus, der uns zum Hotel bringen soll. Ein Ordner hält uns auf, wir müssen einen Umweg laufen, und er verpasst mir einen neuen tierischen Spitznamen, mit dem mich mein neuer Kollege in den Folgewochen aufziehen wird. Ich nehme es mit Fassung.
Als der mäßig gelaunte Busfahrer uns dann doch mitten auf der Reeperbahn rauslässt, kommen mir kurz Zweifel. Soll ich sitzen bleiben? Ich denke für einen Bruchteil einer Sekunde an morgen, an meine Familie, den frühen Zug, mein volles Email-Postfach – und folge meinen Kollegen in die Nacht auf den „Kiez“.
Der Autor: Holger Rehm-Engel (38) arbeitet seit knapp drei Jahren für den Sport-Club. Vor seiner Zeit in Freiburg war der gebürtige Ulmer zwölf Jahre in Hamburg als Sport- und Wirtschaftsjournalist tätig.
Foto: Achim Keller / SC Freiburg