"Die Ausgegrenzten in unsere Mitte zurückholen"

Nachhaltigkeit
21.01.2024

Der Sport-Club ruft seine Fans zur aktiven Mitarbeit an #everynamecounts auf. Sonja Pösel von den Arolsen Archives und Dorinja Weizel vom SC über die Hintergründe der Initiative.

Frau Pösel, Ihre Organisation, die Arolsen Archives, besitzt die weltweit größte Dokumentensammlung zu Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus. Im Rahmen der Crowdsourcing-Initiative
„#everynamecounts“ rufen Sie nun weltweit dazu auf, mitzuhelfen, diese Dokumente für alle auch online frei verfügbar zu machen. Wie funktioniert das?

Sonja Pösel: Ganz einfach: Indem Namen und Daten von Überlebenden und Opfern des Nationalsozialismus von Originaldokumenten online abgetippt werden. Dafür braucht es keinerlei Vorkenntnisse, und es ist uns auch nicht wichtig, ob jemand 50 oder nur ein einziges Dokument bearbeitet. Jeder Beitrag bringt das Projekt voran.

Worin besteht der Sinn, einen Namen abzutippen?

Pösel: Wir haben insgesamt etwa 100 Millionen Dokumente, die Informationen zu etwa 17,5 Millionen Menschen enthalten. Alle Dokumente sind digitalisiert, aber noch lange nicht alle in einer Datenbank und verschlagwortet. Also sind sie im Netz nicht auffindbar. Um das zu erreichen, brauchen wir die Hilfe von möglichst vielen Menschen. Unser Ziel ist es, den Opfern des Nationalsozialismus ein Denkmal zu errichten und gleichzeitig einen Einblick in Originalquellen und damit das menschenverachtende System der Nationalsozialisten zu ermöglichen.

Weil die Helfenden in direkten Kontakt mit den Namen und damit den Menschen und Schicksalen dahinter kommen?

Pösel: Das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Die Nationalsozialisten haben die Menschen entmenschlicht, indem sie ihnen Nummern gegeben haben. Dadurch, dass man den Namen dieser Menschen abtippt und ihn sichtbar macht, gibt man ihnen wieder ein Stück ihrer Persönlichkeit zurück. Wir finden auch, dass diese Dokumente Allgemeingut sind und frei zugänglich sein müssen. Sie sollen nicht nur Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gehören und ausschließlich Gegenstand ihrer Forschung sein. Die Daten gehören uns allen und die Menschen dahinter in unsere Mitte.

Mit Sigmund Günzburger hatte der SC Freiburg 1919 einen jüdischen Vizepräsidenten. 1942 wurde Günzburger in Auschwitz ermordet, und über seinen Leidensweg bestehen noch viele Unklarheiten. Auch bei der Online-Recherche in den Arolsen Archives findet sich derzeit nichts über ihn.

Pösel: Eine Tatsache, die die Sinnhaftigkeit der Mitarbeit an der Initiative unterstreicht. Denn tatsächlich haben wir viele Dokumente zu ihm im Archiv. Sein Name findet sich zum Beispiel auf Transportlisten nach Drancy und von dort nach Auschwitz, wo er ermordet wurde. Vor allem diese Listendokumente sind aktuell noch nicht gut erfasst. Viele Dinge könnten über unsere Dokumente nachvollzogen werden. Aber nur, wenn sie auch online auffindbar sind. Eine große Aufgabe, die auch über #everynamecounts geleistet wird.

Weizel: Wir sind beim Sport-Club mit dem Historiker Robert Neisen und der Unterstützung des zur Studie gegründeten Beirates gerade dabei, die Geschichte des SC in der NS-Zeit aufzuarbeiten. Im Oktober diesen Jahres sollen die Ergebnisse in Form eines Buches veröffentlicht werden. Vieles haben wir schon herausgefunden – aber es ist tatsächlich sehr schwierig, an Daten aus dieser Zeit heranzukommen. Auch deshalb unterstützt der Sport-Club die Initiative mit großer Überzeugung. 

Ist es schwer, genügend Helferinnen und Helfer zur Mitarbeit zu motivieren?

Pösel: Im Gegenteil. Über 110.000 Menschen haben weltweit bereits mitgemacht und Daten übertragen. Eine der Kernaussagen von #everynamecounts lautet: „Die Gründe für Verfolgung sind nicht Geschichte.“ Und ich glaube, gerade das spüren die Menschen aktuell sehr stark. Die Nazis haben Menschen verfolgt, weil sie anders waren, anders aussahen, eine andere Meinung hatten. Aus genau denselben Gründen werden auch heute noch Menschen auf der ganzen Welt verfolgt und Konflikte geschürt.

Weizel: Ich würde mich dem anschließen und anfügen, dass viele der aktuellen Konflikte so komplex und verfahren scheinen, weil wir nicht verstehen, woher die Strukturen kommen, aus denen sie entstehen. Die Gründe für Verfolgung und Ausgrenzung sind heute immer noch die gleichen – und durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte können wir sehr viel lernen, was uns heute dabei hilft, zu verstehen.

Warum muss diese Auseinandersetzung auch da geführt werden, wo sich die Leute entspannen wollen, wie zum Beispiel in einem Fußballstadion?

Pösel: Wir leben nunmal in einer Gemeinschaft. Einer aus sehr unterschiedlichen Individuen. Und letztendlich müssen wir lernen, wie wir das am besten tun. Das Beispiel, dass uns die Nazis gegeben haben, ist, wie es auf gar keinen Fall geht. Wie Ausgrenzung, Stigmatisierung funktioniert, wie Hetze und Radikalisierung funktioniert, sehen wir eins zu eins am Nationalsozialismus. Deshalb finde ich, dass eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung darüber wichtig ist – auch in einem Fußballstadion.

Weizel: Dadurch, dass ein Fußballverein so eine große Strahlkraft in die Gesellschaft hat und so unterschiedliche Zielgruppen erreichen kann, trägt er auch eine gesellschaftliche Verantwortung. Als SC Freiburg haben wir die Chance, Menschen in einem anderen Setting für diese Themen zu sensibilisieren. Einem, das nicht vorbelastet ist, etwa durch Lerndruck, wie beispielsweise die Schule. Dieses Potenzial können wir nutzen, um unserer Verantwortung gerecht zu werden und unseren Beitrag zu leisten. Und wo, wenn nicht im Fußball, ist so offensichtlich, wie wichtig ein positives Miteinander ohne Ausgrenzung für den Erfolg der Gemeinschaft ist?

Pösel: Das möchte ich unterstreichen. Toleranz und Demokratie sind keine blutleeren Dinge, die man einfach nur lernen muss. Man muss sie erleben, um sie leben zu können. Gerade im Sport kann das leicht verstanden und im Miteinander im Stadion auch immer wieder ausprobiert werden. Denn Fußball ist per se integrativ.  

 

Interview: Alexander Roth

 

Nie wieder! - Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit. Die deutschen Fußballvereine und ihre Fans greifen dieses Ereignis seit 20 Jahren auf. Jedes Jahr an den Spiel- und Turniertagen um den 27. Januar gedenken sie der verfolgten, deportierten und ermordeten Menschen.

Infos: niewieder.info

Die Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution mit Sitz im hessischen Bad Arolsen sind das internationale Zentrum über NS-Verfolgung mit dem weltweit größten Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus. Die zugrundeliegende Dokumentensammlung gehört seit Juni 2013 zum UNESCO-Weltdokumentenerbe.

Sonja Pösel ist Head of Campaign Management bei den Arolsen Archives, leitet seit Mitte 2021 das Projekt #everynamecounts.

Dorinja Weizel aus der Abteilung Marketing und Nachhaltigkeit des SC kümmert sich innerhalb des Team Nachhaltigkeit um das Handlungsfeld „Solidarität und regionales Engagement“ und um die Antidiskrimminierungsarbeit im Verein.

 
Ihr Browser ist veraltet.
Er wird nicht mehr aktualisiert.
Bitte laden Sie einen dieser aktuellen und kostenlosen Browser herunter.
Chrome Mozilla Firefox Microsoft Edge
Chrome Firefox Edge
Google Chrome
Mozilla Firefox
MS Edge
Warum benötige ich einen aktuellen Browser?
Sicherheit
Neuere Browser schützen besser vor Viren, Betrug, Datendiebstahl und anderen Bedrohungen Ihrer Privatsphäre und Sicherheit. Aktuelle Browser schließen Sicherheitslücken, durch die Angreifer in Ihren Computer gelangen können.
Neue Technologien
Die auf modernen Webseiten eingesetzten Techniken werden durch aktuelle Browser besser unterstützt. So erhöht sich die Funktionalität, und die Darstellung wird verbessert. Mit neuen Funktionen und Erweiterungen werden Sie schneller und einfacher im Internet surfen können.