In der kleinen Taktikschule, die erstmals in unserem Stadionmagazin Heimspiel erschienen ist, erklärt Martin Schweiter, Sportlicher Leiter der Freiburger Fußballschule dieses Mal, was „gute Energie haben“ meint, – und dass individuelle Qualität manchmal auch noch ohne das gewinnt.
Herr Schweizer, fast in jedem Interview fordern Coaches mittlerweile, ihr Team müsse „Energie auf den Platz bringen“, wahlweise „eine gute Energie haben“. Aber sind Energiegeladenheit und Lauffreude bei fitten Profis nicht selbstverständlich?
Schweizer: Energie auf dem Platz entsteht nicht einfach durch eine hohe Laufleistung, die für mich per se ohnehin kein Indikator für gutes oder schlechtes Spiel ist. Ein Team kann überragende 126 Kilometer im Spiel abreißen – dabei aber fast nie den Ball haben, ständig ausgespielt werden und 0:4 verlieren. Wichtig ist vielmehr, in Ballnähe intensiv zu laufen und ballfern aufmerksam zu sein, sodass ich – für den Fall, das Spiel verlagert sich zu mir – gut positioniert bin. Tun das alle elf Spieler, und gibt es zudem Verbindungen zwischen ihnen, als wären sie mit unsichtbaren Gummibändern zu einem variablen, kompakten Netz verknüpft, dann entsteht Energie auf dem Platz oder – wie ich eher sagen würde – Intensität.
Energie oder Intensität resultieren demnach aus gemeinschaftlichem Handeln?
Schweizer: Für mich ja. Ein Beispiel: Gehen nur drei Spieler hoch ins Pressing, der Rest des Teams rückt aber nicht nach, wirst du auf oberstem Niveau lockerflockig ausgespielt. Dann verteidigst du quasi nur noch zu acht, und agieren nun wieder einige Spieler unkoordiniert nach vorn, bröckelt deine Abwehr so quasi nach und nach weg. Arbeitet dagegen das ganze Team beim Pressing als Einheit mit guten vertikalen wie horizontalen Abständen, entsteht Intensität. Die kann aber wiederum verpuffen, falls du dann in den Zweikämpfen nicht aggressiv genug bist – oder aber zu aggressiv. Dann machst du Fouls und der Ball bleibt beim Gegner. Foul bricht Pressing, sagen wir.
Aber man muss schon immer mit 100 Prozent Energie zu Werke gehen.
Schweizer: Konstant 100 Prozent zu geben, ist illusorisch. Zudem kann ein Trainer auch vorgeben: Ihr sollt gar nicht ganz vorne schon drauf gehen, sondern erst ab der Mittellinie, sodass wir mit unseren pfeilschnellen Spitzen nach Balleroberungen viel freien Raum für den Konter haben. So sind, je nach fußballerischem Ansatz, verschiedene Arten der Intensität auf dem Platz gefragt.
Beim Stichwort Intensität, oder Energie, denken wir meist an das Spiel gegen den Ball. Betrifft das aber nicht genauso das Spiel mit Ball?
Schweizer: Unbedingt. Intensität, eine gute Energie im Ballbesitz könnte heißen: Du hast ein schnelles, genaues Passspiel mit zwei Kontakten, die Spieler suchen wann immer möglich offensive Lösungen und schaffen es auch, sie technisch umzusetzen. Bestenfalls ist auch dein Gegenpressing stark. Heißt: Du eroberst verlorene Bälle fix zurück, statt regelmäßig kollektiv 80 Meter zurücksprinten zu müssen.um Konter noch abzufangen, und dann – davon geschlaucht – die Intensität im Spiel nicht mehr aufrecht erhalten zu können. Es hängt also vom Zusammenspiel vieler Details ab, ob und welche Intensität entsteht. So wie Topfußball heute funktioniert, ist sie aber extrem wichtig. Wenn jeder versucht, alle Möglichkeiten auszureizen, es zwischen Gegnern oft keine riesigen Qualitätsunterschiede gibt, dann kann die fußballerische Klasse hoch sein, aber ohne Intensität totzdem nicht zum Tragen kommen.
Intensität respektive Energie ist also zu Recht zu einem Schlüsselbegriff des modernen Spiels avanciert? Oder wird da mal wieder was, was es schon immer gab, künstlich hochgejazzt?
Schweizer: Ich denke, im Fußball etwa vor 50 Jahren wurde weder offensiv noch defensiv derart gemeinschaftlich agiert und aus dem Kollektiv heraus Intensität und Energie entwickelt wie heute ...
... zumal damals das Verbundsystem meist nicht die Rolle spielte, sondern eher klare Eins-gegen-Eins-Zuordnungen.
Schweizer: Mannorientiertes Verteidigen ist allerdings auch aktuell wieder sehr en vogue. Bei dieser eher leicht umsetzbaren Spielweise müssen zwar auch alle mitziehen, die Intensität resultiert dabei aber eher aus den einzelnen energiegeladenen Duellen, weniger aus den Verbindungen zwischen den Mitspielern auf dem Platz. Wie es auch heute noch Top-Teams wie beispielsweise Frankreich gibt, die als Mannschaft keine hohe Intensität generieren oder gute Energie auf dem Platz haben, sondern sich eher auf ihre individuellen Qualität verlassen.
Interview: Timo Tabery und Uli Fuchs
Foto: Carsten Riedl
Die kleine Taktikschule ist ein regelmäßig erscheinendes Format in unserem Stadionmagazin "Heimspiel", das hier auch im Abo erhältlich ist.