In der kleinen Taktikschule erklärt uns Martin Schweizer, Sportdirektor der Freiburger Fußballschule, heute die Feinheiten des Anstoßes.
Heimspiel: Herr Schweizer, nach dem Anstoß der Heimspielsaison der SC-Profis, eine Taktikfrage mit kleinen Augenzwinkern: Denken Sie als Trainer auch über den Anstoß nach, die, wenn man so will, unscheinbarste aller Standardsituation im Fußball?
Martin Schweizer: Aber klar. Es ist ja nicht ganz unwichtig, zu Beginn einer Halbzeit sofort gut ins Spiel reinzukommen. Oder sich, nachdem man ein Tor kassiert hat, gleich mit einer funktionierenden Offensivaktion wieder ein gutes Gefühl zu holen, womöglich sogar eine Torchance zu kreieren.
Nur sind die Voraussetzungen dafür nicht die allerbesten: Schließlich befinden sich alle gegnerischen Spieler hinterm Ball.
Stimmt. Andererseits ist der Anstoß eine Standardsituation mit der immer gleichen Ausganssituation. Sprich: Ich kann sehr gut ein paar Pässe und Laufwege vorausplanen, und bin ich schlau, kann es möglich sein, den Ball gezielt in einen interessanten Raum zu bringen, in dem ich schon Überzahl geschaffen habe.
Manche Trainer sollen den Anstoß auch gezielt nah der Eckfahne ins Seitenaus schlagen lassen, um den Gegner dann beim Einwurf zuzupressen.
Um es zurückhaltend auszudrücken: Das widerstrebt mir. Unsere Spielidee beim SC ist es ja, zu agieren und den Ball haben zu wollen und ihn nicht mit Absicht zu verlieren.
Ihrer Spielidee zufolge sollte man also beim Anstoß erstmal den Ball flach zirkulieren lassen, alle Spieler in Position bringen und dann eine Torchance herauszuspielen versuchen?
Nicht unbedingt. Auch den Flugball nach Rückpass vom Anspielpunkt sehe ich als gute und gegebenfalls auch erwünschte Option an, wenn er nicht blind gespielt wird, sondern – wie gesagt – gezielt in einen zuvor festgelegten Raum, wo wir Überzahl herstellenund dort versuchen einen guten Kopfballspieler gegen kleinen, kopfballschwachen Gegenspieler in´s Duell zu bekommen.
Weil so die Chance steigt, dass wir den Ball dort festmachen können, ihn gezielt weiter leiten können oder uns den zweiten Ball sichern?
Wobei aber auch wichtig ist, nicht zu vorhersehbar zu agieren. Etwa könnten ein oder zwei Spieler nach dem Anspiel diagonal nach vorn laufen, sodass der für den Flugball anvisierte Raum, wo ich in Überzahl sein will, woanders entsteht als es beim Anstoß den Anschein
hatte. Allgemein besteht im Fußball eine Kunst darin, für Überraschungsmomente zu sorgen. Immer mal wieder wird ja auch ein Anstoß überraschend direkt aufs und ins Tor geschossen.
Mitunter kombinieren Teams auch überraschend vom Anstoß weg ohne Rückpass sofort flach nach vorn.
Auch eine gute Option, mit wenigen Flachpässen in einen gefährlichen Raum zu kommen, aus dem womöglich sogar ein direkter Torabschluss zustande kommen könnte. Zudem wäre es eine Möglichkeit, gezielt über einen Raum anzugreifen, in dem sich beim Anstoß ein gegnerischer Stürmer befindet, von dem wir wissen, dass er nicht sehr gern verteidigt.
Wie trainiert man sowas, ohne von den Spielern für verrückt erklärt zu werden?
Zum Beispiel indem man bei einer Spielform vorgibt: Geht der Ball ins Toraus, geht’s mit Anstoß weiter. Klar muss man die jeweiligen Ablaufvarianten dann mit den Spielern entwickeln oder auch einfach vorgeben. Letztlich geht’s dabei um Glaubwürdigkeit. Die hast du, wenn die Jungs merken, im Spiel helfen uns die Vorgaben des Trainers.
Ganz schön viele Gedanken über den einzigen Standard, den man eigentlich nur einmal im Spiel haben will! Und hat man sehr oft Anstoß, hat man Probleme, die auch ausgetüftelte Anstoßvarianten kaum ausbügeln werden.
Man darf die Spieler natürlich nicht mit Vorgaben überfrachten. Und klar sind Einwürfe ein relevanterer Trainingsinhalt als Anstöße, weil sie im Spiel weit häufiger vorkommen. Dennoch bietet der Anstoß die Chance, für sich und den Gegner ein gewisses psychologisches Signal zu setzen. Oder aus dieser Standardsituation heraus eine gute Offensivaktion zu entwickeln, die etwa zu einer Torchance, einem interessanter Freistoß oder Eckball führen kann. Statistisch gesehen fallen übrigens gar nicht so wenige Tore in – mehr oder weniger direktem – Zusammenhang mit Anstößen.
Interview: Timo Tabery und Uli Fuchs
Foto: Imago Images
Dieser Text erschien erstmals in unserem Stadionmagazin "Heimspiel" vor der Partie gegen Borussia Dortmund.